Warum mir der Schmoeler Hexenstein am Herzen liegt
von Marie-Luise Stiawa
Im Vorfrühling 2012 erfuhr ich von Jan Kobersteins Vorhaben, einen Ort einzurichten, an dem die Frauen, Männer und Kinder gewürdigt werden sollen, die auf den Scheiterhaufen der Inquisition verbrannt wurden. Dieser Ort soll auf dem Land von Gut Schmoel nahe Hohenfelde an der Ostsee sein, weil hier im 17. Jahrhundert Hexenverbrennungen stattgefunden haben.
Während ich die Nachricht las, wusste ich, daß sie mich betrifft. Nicht nur, weil Gut Schmoel in der Landschaft liegt, in der ich zu Hause bin, sondern vor allem weil sich hier ein Mensch eines Themas annimmt, das mehr als dreihundert Jahre Bestandteil unserer Geschichte war und dennoch unter den Nebeln des Tabus verborgen liegt. Endlich hat einer die Vision und den Mut, dieses dunkle Kapitel so sichtbar ins Licht zu stellen und damit Heilung zu ermöglichen.
Die Hexenverbrennungen, die zwischen 1400 und 1775 in dem Gebiet stattfanden, der heute Deutschland heißt, sind ein kollektives und persönliches Thema.
Ich möchte erzählen, warum ich es so wichtig finde, daß es aus der Versenkung geholt wird, und fange mit meiner persönlichen Geschichte an.
Während meiner Schulzeit zwischen 1960 und 1972 waren die Hexenprozesse kein Thema. Auf eine vage Art und Weise habe ich irgendwann davon Kenntnis bekommen, vielleicht im Religionsunterricht. Ich wusste wenig: daß ein Papst dahinter steckte, daß vor allem Frauen auf den Scheiterhaufen brannten und daß wir Protestanten nichts damit zu tun hatten.
Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts kam ich mit dem Thema wieder in Berührung: die spirituelle Frauenbewegung hatte sich seiner mit flammendem Forscherinnengeist angenommen. 1984 fiel mir in einer Essener Buchhandlung ein Buchtitel ins Auge: Ich bin eine Hexe. Judith Jannberg (Pseudonym für Gerlinde Schilcher) beschrieb ihre persönlichen Rückführungserlebnisse, die sie zu der Erkenntnis brachten, daß sie in einer ihrer früheren Inkarnationen eine der verbrannten Frauen war und ihre Wiederentdeckung der alten vorchristlichen Naturreligion, in deren Zentrum die Große Mutter steht.
Das kleine Buch bescherte mir ein tiefgreifendes Erleuchtungserlebnis. Verschwommene Bereiche meines Lebens bekamen plötzlich Bedeutung. Jetzt konnte ich mir erklären, warum ich im Alter von zehn oder elf Jahren jeden Abend im Bett liegend flackernde Flammen um mich herum sah, ihre Hitze fühlte und in Panik erstarrte. Mein Versuch, mit meinem Vater darüber zu sprechen, lief ins Leere: er sah keine Flammen und konnte mir nicht aus meiner Todesangst heraushelfen.
Gerlinde Schilchers Buch öffnete mir einen Weg, der mich wieder mit der Natur und ihren jahreszeitlichen Rhythmen verband und zugleich mit meinem eigenen weiblichen Körper und seinen Zyklen. Alles war Natur und ich als Menschenfrau ein Teil davon, eine Zelle im Organismus des Großen Ganzen, des Kosmos. Wie schön, wie tröstlich, wie heilend! Welches Heilungspotential in diesem Weltbild liegt, können vielleicht nur die Frauen verstehen, die die bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein reichende mehr oder weniger subtile Geringschätzung des Weiblichen erlebt haben, die auch in der damaligen Gesetzgebung ihren Ausdruck fand und ein schmerzhafter Stachel in den Beziehungen zwischen Frauen und Männern war.
Die Zeit war reif! Plötzlich tauchten viele Frauen auf, die das Hexenthema aufgriffen und darüber schrieben: Starhawk, Zsuzanna Budapest, Luisa Francia, Ute Schiran, um nur einige zu nennen. Ihr gemeinsamer Nenner: wir sind die (reinkarnierten) Hexen, wir nehmen uns unsere weibliche Macht (die damals verbrannt werden sollte) zurück, wir heilen uns selbst. Es gab damals viele Schuldzuweisungen gegen die Männer, die Kirchen, das Patriarchat.
Wir schufen uns Räume, in denen Heilung geschehen und eine spezifisch weibliche Kultur wachsen konnte. Wir experimentierten mit Magie, Trancereisen und Ritualen und feierten Mond- und Jahreskreisfeste.
Irgendwann stand das Hexenthema nicht mehr so sehr im Vordergrund. Die klaren Fronten wurden durchlässiger, mein Wunsch nach Frieden mit den Männern wurde klarer. Von Zeit zu Zeit tauchten die Hexen dann doch wieder auf: kurz nach der Jahrtausendwende bekam ich Besuch vom Pfarrer aus dem Nachbardorf, der die Neuzugezogenen kennenlernen wollte. Ich informierte ihn darüber, daß ich schon vor Jahrzehnten aus der evangelischen Kirche ausgetreten war. Das sich daraus ergebende Gespräch berührte auch die Inquisition und ich erhob schwere Vorwürfe gegen die Kirchen. Der Pfarrer, ein alter, nachdenklicher Mann, der gut zuhören konnte, behauptete nun, die protestantische Kirche habe mit den Hexenprozessen nichts zu tun gehabt.
Dieser Überzeugung bin ich anschließend einige Male begegnet, zuletzt bei der Vorstellung des Schmoeler Hexenstein-Projektes am 14. März 2012 im Feuerwehrhaus von Schwartbuck. Für einen engagierten Protestanten ist es verständlicherweise schwer erträglich zu erkennen, daß auch die Leute seiner Glaubensrichtung blutige Hände hatten. Wenn Heilung geschehen soll, muss jedoch die ganze Wahrheit auf den Tisch.
Damit wende ich mich dem kollektiven Thema zu. Die nackten Fakten sind folgende:
- Zwischen 1400 und 1775 sind in Europa mindestens 100 000, manche sprechen auch von 9 Millionen Menschen als Hexen gefoltert, verurteilt und verbrannt worden. In Holstein gingen die Hexenverfolgungen von 1530 bis 1735.
- Davon waren 80 Prozent Frauen, die restlichen 20 Prozent Männer und Kinder. Sogar Säuglinge wurden ins Feuer geworfen. In manchen Ortschaften gab es keine Frauen mehr. In Holstein betrug der Frauenanteil sogar 88 Prozent.
- Die Hexenverfolgungen begannen vor der Reformation und wurden mit dem Erlass der „Hexenbulle“ von Papst Innozenz VII. vom 5. 12.1484 legitimiert. Später beteiligten sich auch die protestantischen Kirchen.
Von Martin Luther ist folgender Ausspruch überliefert: „Mit Hexen und Zauberern sollte man keine Barmherzigkeit haben. Ich wollte sie selber verbrennen.“ Johann Calvin, Schweizer Reformator, forderte, „daß alle Zauberer in Genf – zur Ehre Gottes – ausgerottet würden.“ 1545 wurde Calvins eigene Mutter als Hexe hingerichtet. Der dänisch-lutherische
Reformator Niels Hemmingsen glaubte an die Existenz von Hexen und ihren Pakt mit dem Teufel. Der lutherische Pastor Samuel Meiger aus Nortorf forderte ein strenges Vorgehen gegen die Hexerei, für ihn „die Mutter aller Sünden“.
Diese Namen stehen beispielhaft für die vielen protestantischen Kirchenvertreter, die an den Hexenverbrennungen beteiligt waren, indem sie dazu aufriefen und sie theologisch legitimierten.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß es bis heute weder von der katholischen noch den evangelischen Kirchen eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Hexenverfolgungen gegeben hat. Die Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. war ein halber Schritt in die richtige Richtung, enthielt aber kein Wort zur Mittäterschaft der Kirche.
Die Frage, was zur Verfolgung und Vernichtung von Menschen als Hexen geführt hat, führt zu einer Vielzahl von möglichen Antworten. Ich kann sie an dieser Stelle nur skizzenhaft darstellen:
Die Soziologen Gunnar Heinsohn und Otto Steiger stellten die These auf, daß die Hexenprozesse eine Reaktion auf die Pest waren, die einen großen Teil der Bevölkerung das Leben kostete. Der katholischen Kirche als damals größter Landeigentümerin fehlten nun die Arbeitskräfte. Die Volksheilkunde lag damals noch überwiegend in den Händen der Frauen, die auch als Hebammen wirkten. Sie kannten Kräuter, mit deren Hilfe eine Empfängnis verhindert und eine Schwangerschaft unterbrochen werden konnte. So waren also die weisen Frauen und Hebammen das erste Angriffsziel der Inquisitoren. Zur gleichen Zeit gingen die Heilbefugnisse in die Hände des sich gerade erst bildenden Ärztestandes über und das Ausüben der Erfahrungsheilkunde ohne staatliche Erlaubnis wurde strafbar. Die heutigen Gesetze zur Ausübung der Heilkunde haben in jener Zeit ihren Ursprung, desgleichen der bis Ende des letzten Jahrhunderts geltende Straftatbestand des Schwangerschaftsabbruchs, der viele Frauen zwang, ihr Leben und ihre Gesundheit auf dem Küchentisch einer sogenannten „Engelmacherin“ zu riskieren oder in eine Abtreibungsklinik nach Holland zu fahren.
Wir können davon ausgehen, daß es eine europäische traditionelle Volksmedizin gab, entsprechend der traditionellen chinesischen Medizin. Überreste davon finden sich noch bei dem mittelalterlichen Arzt Paracelsus, der hervorhob, er habe all sein Wissen von den „weisen Frauen“. Diese alte Heiltradition wurde durch die Inquisition gebrochen. Kaum eine Frau konnte es mehr wagen, ihre Heilkenntnisse zu benutzen und weiter zu geben.
Die Vertreterinnen der spirituellen Frauenbewegung sahen die Opfer der Inquisition als Vertreterinnen der vorchristlichen Erdreligion, die ihr altes Wissen hüteten sowie ihre überlieferten Rituale abhielten. Für die Kirchen war das subversiv und musste unterbunden werden.
Ich glaube, daß beide Begründungen viel Wahrheit enthalten. Aber daß die Scheiterhaufen mehr als dreihundert Jahre brannten war meines Erachtens nur möglich, weil ganz normale Menschen – Nachbarn, Bekannte, vielleicht sogar Verwandte – andere der Hexerei bezichtigten und denunzierten.
In den Prozessakten ist oft von Schadenszaubern die Rede: so gab z. B. eine Kuh keine Milch mehr und eine Frau wurde bezichtigt, das Tier verhext zu haben.
Möglicherweise wehrte sich eine Frau gegen sexuelle Annäherungen und man rächte sich, indem man sie beschuldigte, es mit dem Teufel zu treiben.
Nach Rolf Schulte kamen die meisten Hexenprozesse mit Todesurteilen in Schleswig-Holstein in Ostholstein vor. Das war eine Region mit vielen Leibeigenen und Besitzlosen. Hier waren harte Arbeit und Hunger an der Tagesordnung. Die Kombination aus Machtlosigkeit und Mangel mag dazu geführt haben, daß man andere, die vermeintlich mehr hatten, der Obrigkeit anzeigte.
Um den Qualen der Folter zu entgehen, gestanden die Beschuldigten in der Regel alles, was man ihnen zur Last legte.
Heute brennen die Scheiterhaufen hierzulande nicht mehr. Aber wir, die Nachkommen der gequälten und verbrannten Frauen und Männer tragen die Vergangenheit im Gedächtnis unserer Körperzellen. Es ist wahrscheinlich, daß jede und jeder von uns mindestens ein Opfer der Hexenverfolgungen in ihrer/seiner Ahnenreihe hat. Genau so kann davon ausgegangen werden, daß wir alle wenigstens einen Täter oder eine Täterin unter unseren Vorfahren finden können. Täter waren außer den Inquisitoren, Richtern, Folterern und Henkern auch die Denunziantinnen und Denunzianten. Darüber hinaus müssen auch diejenigen als Täter bezeichnet werden, die die geistige Grundlage für die Hexenprozesse gelegt haben: die Vertreter der katholischen und evangelischen Kirchen.
Wir wissen, daß erlebte Gewalt an nachfolgende Generationen weitergegeben wird. Nicht nur indem Opfer zu Tätern werden, sondern auch, indem traumatische Erfahrungen im Körpergedächtnis gespeichert und in die Gene eingeprägt werden. Vielleicht macht sich ein Trauma von Mutter oder Großmutter bei Tochter oder Enkelin als Ängstlichkeit oder Gehemmtheit, unerklärliche Panikattacken oder süchtiges Verhalten bemerkbar. Und wie geht es den Nachkommen der Täter? Sie spüren vielleicht, daß ein dunkles Geheimnis in ihrer Familie existiert, etwas nicht Greifbares, Unheimliches.
Es scheint Gemeinsamkeiten im Umkreis von Tätern und Opfern zu geben: Scham, die Erfahrung von Verrat und das große Schweigen über das Geschehene.
Die Zeit der Hexenverfolgungen hat uns alle auf irgendeine Weise tief verwundet, sie hat die menschlichen Gemeinschaften nachhaltig vergiftet: tief in unseren Zellen schlummern vergrabene Erinnerungen an Verrat, Folter, Flammentod.
Jan Koberstein hatte ein tiefes Gespür für unseren kollektiven Schmerz und ein helles Ohr für den Ruf nach Heilung. Offensichtlich hat das Leben ihm den Auftrag gegeben, das Projekt „Schmoeler Hexenstein“ in die Welt zu bringen.
Sein Vorhaben ist so besonders, weil es von vielen Händen, Herzen und Hirnen gestaltet werden soll und bereits wird. Es fordert dazu auf, sich mit der kollektiven und persönlichen Geschichte von Opfern und Tätern zu beschäftigen, miteinander zu sprechen und einen festen Ort zu schaffen, an dem die gefolterten und verbrannten Frauen, Männer und Kinder gewürdigt werden und vielleicht Versöhnung geschehen kann.
Möge der Schmoeler Hexenstein ein Ort der Heilung von Schmerz, Schuld und Scham sein.
Lammershagen, im März 2014
Verwendete Quellen
Rolf Schulte – Hexenverfolgungen Holstein, Herzogtum, 27.04.2001 (www.historicum.net)
Gunnar Heinsohn, Otto Steiger – Die Vernichtung der weisen Frauen, München 1987